Ein Gigant hat Zahnweh


Zahnweh können viele haben

Ein jeder, der einmal einen vereiterten Zahn sein eigen nennen mußte, wird die alte Volksweisheit gerne bestätigen, dass Zahnweh schlimmer als Heimweh ist. Nun faulen und vereitern nicht nur die Zähne im menschlichen Gebiss; Zahnerkrankungen sind in der Tierwelt wesentlich häufiger, als man im allgemeinen annehmen möchte. So sind es sowohl beim Fleisch- wie auch beim Pflanzenfresser nicht selten die Zähne, die im höheren Lebensalter Probleme machen, und schließlich durch die unzureichende oder gar fehlende Zerkleinerung der Nahrung zu schwerwiegenden Störungen des gesamten Verdauungstraktes und schließlich zum Tod des betroffenen Tieres führen. Ursache dafür sind hauptsächlich die Vorbacken- und Backenzähne, seltener aber die Schneidezähne.

Problem Stoßzahn
Eine Ausnahme hierfür stellen die Elefanten dar, handelt es sich doch bei den Stoßzähnen, welche das wertvolle Elfenbein liefern, nicht wie man meinen sollte um die Eckzähne, sondern um die Schneidezähne. Diese sind beim Elefanten wie bei den Nagetieren als sogenannte monophyodonte Zähne ausgebildet, d.h.sie besitzen keine Wurzeln und wachsen permanent nach. Durch ihren täglichenchen Einsatz, wie z.B beim Entrinden von Bäumen, sorgt der dadurch entstehende Abrieb des Zahnes dafür, dass dieser nicht zu lang wird. Nicht selten kommt es aber gerade in Menschenhand nach Rangordnungskämpfen oder Stürzen dazu, dass ein solcher Zahn abbricht. Wenn die Fraktur im vorderen Drittel des Zahnes erfolgt, wird die Zahnhöhle nicht geöffnet und die sog. Zahnpulpa nicht freigelegt.Unter Zahnpulpa verstehen wir Ner- ven, Blutgefässe sowie die Gewebeschicht, welche das Elfenbein ständig produziert. Dabei wird über die kegelförmige Pulpa eine Zahnschicht tütenförmig über die andere gelagert und der Zahn wächst gleichzeitig nach vorne. Erfolgt die Zahnfraktur aber weiter oben, wird die Pulpa mit ihren empfindlichen Nervensträngen freigelegt. Das ist nicht nur mit massiven Schmerzen für das arme Tier verbunden, sondern führt auch immer dazu,dass in dieses hochempfindliche Gewebe Keime eindringen und es zu einer schweren Zahninfektion kommt. Dann ist freilich für den Zootierarzt höchste Eile geboten, da es sonst schnell zu einer Allgemeininfektion mit fatalen Folgen kommen kann. Mit einem be- achtlichen Risiko und zahlreichen Problemen ist eine derartige Behandlung aber meistens verbunden.

Problem Plombe
Genau eine solch offene Zahnfraktur zog sich nun vor ca.zwei Jahren der 30 Jahre alte Elefantenbulle „Boy “ im Zoo von Kiew zu. Ein englisches Team, spezialisiert auf die Stoßzahnbehandlung von Elefanten, nahm die Zahnbehandlung vor und versiegelte den Zahnkanal danach mit einer Plastikplombe. Zwar saß diese Plombe bombenfest, Boy begann aber in den nachfolgenden Monaten immer wieder Anfälle von heftigen Zahnschmerzen zu zeigen. Diese äußerten sich dadurch, dass der Bulle den Stoßzahn stumpf fast im Kopfstand in die Erde bohrte oder gegen die Mauern drückte. Die eingesetzten Medikamente brachten eine zeitweise Linderung, die Anfälle wurden aber immer häufiger. Hinzu kam, dass an mehreren Stellen des Körpers sich große Abszesse bildeten, ein sicherer Hinweis darauf, dass irgendwo im Körper ein streuender Eiterherd saß. Aufgrund des Vorberichtes und des Verhaltens von Boy lag es nahe, diesen Eiterherd in dem plombierten Stoßzahnstumpf zu vermuten.

Problem Blutvergiftung
Im Sommer dieses Jahres absolvierte der Zootierarzt von Kiew, Herr Dr Andrej Marunchyn, bei uns ein Praktikum, und bei der Vorstellung des Falles von Boy rieten wir dringend dazu, die Plombe so schnell wie möglich wieder zu entfernen. Inzwischen hatten sich zudem weitere unheilvolle Anzeichen eingestellt! Der Bulle begann unter Nierenkoliken zu leiden und da er zum Teil im Rahmen dieser Anfälle einen ganzen Tag kein Wasser absetzte, lag es nahe, dass Keime über den Blutweg (Septikaemie =Blutvergiftung) in die Nieren gelangt waren und diese in ihrer Funktion bereits geschädigt hatten.


(Bild: Der Patient war stets dicht umlagert)

Problem Spülung
Nach Kiew zurückgekehrt, wurde der Bulle von Andrej nach unseren Empfehlungen in Narkose gelegt, die Plombe geöffnet, wobei mehrere Liter Eiter sich explosionsartig entleerten. Das noch im Schädel festsitzende Stoßzahnfragment musste dann mit verschiedenen Desinfektionsmitteln täglich gespült werden, um der Infektion Herr zu werden. Dazu wurde auf der Außenanlage eigens ein zusätzlicher Behandlungsgang gebaut und mit Hilfe langer Spritzen und Schläuche gelang es tatsächlich, die Wunde ein- bis zweimal am Tag zu spülen. Bei aller Reaktionsschnelligkeit und trotz Vorsichtsmaßnahmen des behandelnden Teams war das freilich immer ein lebensgefährlicher Akt. Denn auf das Kommando „down “legte sich Boy zwar ab und konnte mit Leckerbissen so abgelenkt werden, dass eine Spülung von der Seite her möglich war Dabei muss man freilich bedenken, dass der noch ca.30 cm aus dem Zahnfleisch vorstehende Zahnstumpf direkt neben dem Rüsselansatz vorstand. Wehe dem Tierpfleger oder Tierarzt, der beim Spülen an Rüsselansatz nicht schnell genug aus der Reichweite der Rüsselspitze kommt, wenn diese nicht mehr nach dem Leckerbissen zu greifen sucht!

 (Bild: Boy im Behandlungsgang)

Leider hatten aber all diese heroischen Spülungen nicht den gewünschten Erfolg und auch hohe Gaben von Antibiotika über das Futter konnten weder den eitrigen Ausfluss aus dem Zahn noch die Bildung eines neuen, faustgroßen Abszesses auf dem linken Vorderbein verhindern. Zu allem Übel trat dann nochmals eine Nierenkolik mit Harnverhaltung auf. Damit war es klar, dass höchste Eile geboten war, den Eiterherd, sprich den Zahnstumpf, endlich zu entfernen.

Den ersten Versuch einer Zahnextraktion hatte Andrej schon unternommen, als er die Plombe entfernte, war jedoch an den Dimensionen des Zahnes gescheitert. Unvorsichtigerweise hatte iich ihm aber bei seinem Aufenthalt in München zugesagt, zu helfen, fühlten wir Hellabrunner uns doch insofern Boy gegenüber verpflichtet, weil zwei Jahre zuvor unsere Elefantenkuh Dirndl im Kiewer Zoo zur Zuchtgemeinschaft eingestellt worden war. Dazu muss man noch wissen, dass Boy einer der wenigen zuchterprobten asiatischen Elefantenbullen in Europa ist!


(Bild: Aufgeregte Diskusion nach dem Atemstillstand)

Problem Zahnbesteck
Da uns Andrej die Dimensionen des Zahnes mittels einer Skizze durchgegeben hatte, wussten wir, dass bei einem Durchmesser von 16 cm und einer Länge von ca. 80 cm wohl ein Zahngewicht von 5 bis 7 kg auf uns zukommen würde. Nun kamen nach der einschlägigen Literatur zwei Möglichkeiten in Frage, einen solchen Riesenzahnstumpf zu entfernen. Im ersten Fall wird ein eiserner Ring auf den Zahnstumpf aufgepasst, an den lange Eisenstangen geschweißt sind, mit deren Hilfe man dann durch Rota- tionsbewegungen versucht den Zahn zu lockern. Mit diesem Versuch war wie gesagt Andrej beim Öffnen der Plombe bereits gescheitert. Wir entschieden uns daher für die andere Version, wobei möglichst große Löcher senkrecht in den Zahn gebohrt werden, um mit einer freischwingenden elektrischen Säge den Zahn in einzelne Fragmente zu zerlegen. Zusätzlich ließen wir uns vier verschieden gekehlte Holzbeitel, wie sie die Holzschnitzer bei ihrer Arbeit verwenden, an einem je 1 m langen Edelstahlstab von 15 mm Durchmesser anschweissen, um so die Möglichkeit zu haben, auch tief im Schädel die Zahnfragmente herausstemmen zu können. Die Operation selbst war auf den 15.09.2000 festgelegt, und so fuhren wir am 13.September ab, um die nötigen Vorbereitungen vor Ort treffen zu können.


(Bild: Legen der Bohrgänge für die Säge)

So wurden das Außenge- hege mit einer dicken Sandschicht ge- polstert und zwei große Liebherr-Krä- ne bereitgestellt,falls sich Boy auf die falsche Seite legen sollte.Der Nach- mittag war dem Ausprobieren unserer hergestellten Werkzeuge vorbehalten, wobei ein alter Stoßzahn aus dem Zoo- archiv herhalten musste.Bohrer,Säge und Beitel funktionierten wunderbar und das spröde Elfenbein ließ sich be- stens und sehr schnell bearbeiten


(Bild: Im wahrsten Sinne Knochenarbeit)

Problem Narkose
Zuvor aber wurde noch großer Kriegsrat abgehalten, der aus 13 Professoren der Human- und Tiermedizin der Universität von Kiew bestand, und vor dem ich die Narkose und geplante Operation ausführlich darstellte. Es war allen Beteiligten klar, dass es sich bei Boy um einen hochkarätigen Risikopatienten handeln mußte, da es sich nach den Abszeßbildungen und den Nierensymptomen nicht abschätzen ließ, inwieweit die in Schüben erfolgende Blutvergiftung nicht auch schon andere Organe in Mitleidenschaft gezogen hatte. Obwohl Boy in den letzten Wochen sehr viel an Körpergewicht verloren hatte, ließen wir ihn über Nacht hungern, damit der Magen für die bevorstehende Narkose und Operation futterleer war. Mit einer Widerristhöhe von 3.30 m ist Boy in der Tat ein Gigant und der größte asiatische Elefantenbulle, der derzeit in einem europäischen Zoo gehalten wird. Steht man unmittelbar vor einem solchen Riesen, vorsorglich im Schutz der massiven Absperrung und strikt außerhalb des Rüsselbereiches, überrascht immer wieder eine anatomische Korrelation, mit der sich gut Wetten gewinnen lassen. Fragt man nämlich, wie oft der Umfang eines Vorderfußes in der Widerristhöhe des Tieres enthalten ist, so kommt man beim Nachmessen auf den überraschenden Faktor von zwei! Zweimal die Länge des Vorderfußumfanges entspricht also dem höchsten Punkt des Rückens und unsere Nachmessungen bei Boy ergaben 165 cm Fußumfang. Am nächsten Morgen um 8.00 Uhr erhielt er zuerst zur Prämedikation ein Beruhigungsmittel in einer Futterrübe, die er in typischer Elefantenmanier freilich sorgsam prüfte, um von dem Pulver nur ca.70 % aufzunehmen. Auf der Außenanlage erhielt er dann mit zwei Blasrohrpfeilen die eigentliche Narkose, ging sehr sanft in hundesitziger Stellung zu Boden und legte sich natürlich prompt auf die falsche Seite. Gut, dass wir vorsorglich die beiden Kräne in Position gebracht hatten, mit deren Hilfe er problemlos umgelagert werden konnte. Dann wurde in eine Ohrenvene

(Bild: Hurra, er steht auf)

eine Dauertropf-Infusion gelegt, um bei Kreislaufschwäche oder zum Nachdosieren von Narkotika sofort einen venösen Zugang zu haben. Zwei große Stahlflaschen mit technischem Sauerstoff sorgten für die notwendige Unterstützung zur Sauerstoffsättigung des Blutes während der Narkose. Zur Erhaltung der operationstolerablen Narkose wählten wir ein besonders sanftes Präparat aus, wie es in der Humanmedizin bei Unfallverletzten und bei Kleinkindern eingesetzt wird.

Problem Operation
Zuerst bohrten wir dann mit dem 16 mm-Bohrer vier ca.20 cm tiefe Löcher. Eine tiefere Bohrung war nicht möglich, da das Stoßzahnfragment konkav zum Auge hin gekrümmt war, und wir sonst mit dem Bohrer in die Schädelknochen geraten wären. Sodann setzten wir in die Bohrlöcher das elektrische Sägeblatt ein, um den Zahn in vier Fragmente aufzuteilen.Dabei galt es, mit besonderer Vorsicht vorzugehen, um wiederum das Zahnfach nicht zu verletzen. Danach stemmten wir mit den langgestielten Beiteln die einzelnen Zahnfragmente Stück für Stück heraus. Dies alles klingt zwar sehr einfach, erwies sich aber in der Praxis als eine äußerst mühevolle Knochenarbeit. So war das Elfenbein des noch lebenden Zahnes nicht so spröde und bröckelig wie das vom Testzahn des Vortages, sondern schien eine Konsistenz aus Stahl und Leder zu besitzen, in welchem die Sägeblätter sich verbogen oder die Holzbeitel sich wie Mimes Schwert in dem Amboss festfraßen. Da wir beim Bohren sowie beim Sägen ständig mit Wasser kühlten, war beim Umgang mit den elektrischen Geräten besondere Vorsicht angebracht. Nach dem ersten Stromschlag rieten mir die ukrainischen Kollegen, doch besser Gummihandschuhe anzuziehen. Während der ganzen Prozedur, die insgesamt 3 Std.20 Min. dauerte, galt es, ein wachsames Auge auf Atmung und Kreislauf zu werfen, sowie durch entsprechende Nachdosierung die Narkose zu vertiefen, wenn die Rüsselbewegungen zu lebhaft wurden. Prompt hatten wir natürlich nach ca.2 Stunden einen Narkosezwischenfall, als unser Mann an der Sauerstoffflasche entgegen der Anweisung zu viel Sauerstoff in den Rüssel leitete und dadurch einen reflektorischen Atemstillstand hervorrief. Durch die intravenöse Gabe eines Medikamentes konnte dieser aber sofort behoben werden.

Problem Zeit
Unsere größte Sorge war natürlich, ob sich nicht Boy durch das lange Liegen möglicherweise einen Nerv schädigen oder ein Blutgefäß so abklemmen würde, dass das untenliegende Bein gefühllos und damit ein Aufstehen erschwert würde. Schon bei Pferden, die ja wesentlich weniger wiegen als ein Elefant, sind solche Zwischenfälle gefürchtet und umso häufiger,je länger das Tier in Narkose liegt. Gott sei Dank war aber die dicke Sandlage weich genug gewesen, denn nach dem Gegenmittel (Antidot) stand Boy innerhalb von 5 Minuten problemlos auf und begann sofort zu fressen. Am nächsten Tag bereits deckte er mehrfach und ausdauernd Dirndl und stellte dadurch den Erfolg der Operation auf sehr lebendige Weise unter Beweis! Der Bürgermeister liess es sich nicht nehmen, sich am nächsten Tag bei dem Operationsteam persönlich mit roten Rosen und der Ehrenurkunde der Stadt Kiew zu bedanken. Die gesamte Aktion wurde von unserem bewährten TV-Team vom Bayerischen Fernsehen, Redaktion Udo Zimmermann, gefilmt und soll im kommenden Jahr gesendet werden. Bleibt also nur noch, allen Beteiligten an dieser großen Operation nochmals ganz herzlich Dank zu sagen und zu hoffen, dass Dirndl bereits trächtig ist.

Prof.Dr.H.Wiesner
Photo:Prof.Dr.Wiesner, Hanna Baur


(Bild: Hurra, er steht!)

 

Ausgabe 1/01

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